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Schadet es Kindern, wenn sie am Handy oder Tablet lesen?

Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: Eine volle Ladung Studien zu den Auswirkungen von digitalen Büchern auf die Gehirne von Kindern.

Ich bin mittlerweile vierfacher Onkel. Meine Nichten sind alle ganz unterschiedlich, aber eine Sache haben sie gemeinsam. Immer, wenn wir uns sehen, kommt irgendwann der Punkt, an dem sie mich fragen, ob ich ihnen etwas vorlesen kann. Und: natürlich kann ich.

Ich liebe es, ihnen vorzulesen. Und ich finde es jedes Mal wieder erstaunlich, wie unterschiedlich auch das Vorlesen sein kann – abhängig vom Alter. Mit meiner jüngsten Nichte (sie ist gerade zwei Jahre alt geworden) geht es vor allem darum, auf Tiere und Gegenstände zu zeigen und entweder zu sagen oder sie zu fragen, was genau das wohl ist. Meine zweitjüngste Nichte ist circa ein Jahr älter, ihr kann ich schon kurze Geschichten vorlesen, die sie versteht. Ihre ältere Schwester ist fünf und kann schon längeren Geschichten von Pippi Langstrumpf oder Pettersson folgen. Die Älteste ist 11 Jahre alt und liest schon selbst.

Ich habe es letzte Woche schon geschrieben: Die digitale Welt verändert, wie wir lesen (Opens in a new window). Wir lesen schneller, übersehen Details, verstehen deshalb weniger und erinnern uns schlechter. Das Gleiche müsste natürlich auch für Kinder  gelten – wenn nicht sogar noch mehr. Schließlich sind Kindergehirne noch lernfähiger und plastischer als die von Erwachsenen.

Also: Wie wirkt es sich auf Kinder aus, wenn sie mehr und mehr auf dem Smartphone und Tablet lesen? Wann sollten Eltern lieber auf digitales Lesen verzichten? Unter welchen Umständen hilft es sogar? Heute fasse ich die wichtigsten Studien zu diesen Fragen zusammen. Eins schon vorab: Es gibt keinen Grund, digitales Lesen grundsätzlich zu verteufeln.

Ah, und ein Disclaimer: Heute gehts mir wirklich nur ums Lesen. Das Fass, was Smartphones mit den Gehirnen von Kindern machen könnten (Stichwort Aufmerksamkeit, mentale Gesundheit), mache ich heute nicht auf.

Schau mal, eine Giraffe!

Wir beginnen mit Kleinkindern (von der Geburt bis zum Alter von etwa zwei Jahren). Expert:innen sind sich schon lange einig, dass physische Bücher die beste Wahl sind. Doch vor allem in den letzten Jahren haben selbst Kinderärzt:innen, die Bücher lieben, gute Gründe dafür gefunden, Kindern unter zwei Jahren einen gewissen Zugang zu Touchscreens zu ermöglichen. Die Spezialist:innen für Kleinkinder, Natalia Kucirkova und Barry Zuckerman, argumentieren (Opens in a new window), dass Touchscreens die Entwicklung des Wortschatzes fördern, zur Feinmotorik und zur Hand-Augen-Koordination beitragen und die Kommunikation erleichtern, wenn sie zum Beispiel mit den Großeltern skypen oder Familienfotos auf dem Bildschirm austauschen.

Wie ich hier im Newsletter schon ein paar Mal erwähnt habe, spielt der Austausch mit Bezugspersonen, meistens Eltern, beim Sprechen lernen eine wichtige Rolle. Beim Lesen gilt das gleiche: Es geht auch um das Zusammensein und den Erfahrungsaustausch. Forschende nennen dieses Zusammenspiel von Eltern und Kindern „dialogisches Gespräch“. Das heißt, man liest nicht nur das Buch vor, sondern stellt Zwischenfragen, geht auf die Bilder ein: „Schau mal, eine Giraffe! Wir haben doch gestern im Zoo auch eine Giraffe gesehen, oder?“

Die Debatte über gedruckte oder digitale Bücher für Kleinkinder dreht sich oft um die Annahme, dass gedruckte Bücher diesen Dialog mehr fördern als digitale. Aber stimmt das auch?

In einer Studie (Opens in a new window) verglichen Wissenschaftler:innen den dialogischen Charakter beim Vorlesen von digitalen und analogen Büchern bei 165 Eltern-Kind-Paaren. Das Ergebnis: Beim Lesen eines gedruckten Buches mit einem Erwachsenen entstehen mehr Eltern-Kind-Gespräche als beim Lesen eines digitalen Buches. Und: Bei digitalen Büchern konzentrierten sich die Gespräche eher auf die Technologie als auf den Inhalt. Andere Studien (Opens in a new window) mit Vorschulkindern berichten ebenfalls von einer stärkeren dialogischen Interaktion zwischen Erwachsenen und Kindern bei gedruckten Büchern. Die Autor:innen schreiben: „Nicht nur die Quantität nahm ab [bei digitalen Büchern], sondern auch die Qualität.“

Hyperlinks können hyper ablenken

Es gibt aber ein Aber. Denn digitale Bücher unterscheiden sich auch voneinander – und das kann entscheidend sein. In einer Studie verglichen die Autor:innen, was passiert, wenn Eltern und ihre drei- bis sechsjährigen Kinder gemeinsam eines von drei Arten von Büchern lasen: ein gedrucktes Buch, ein einfaches E-Book und ein erweitertes E-Book. Ein einfaches E-Book kann man sich wie ein gedrucktes Buch vorstellen, nur in digitaler Form. Ein erweitertes E-Book hingegen arbeitet mit Hyperlinks, Grafiken, kleinen Videos, Hör-Schnipseln usw.

Das Ergebnis: Die Aktivitäten von Erwachsenen und Kindern, die sich auf den Inhalt des Buches bezogen (z.B. Benennen, Zeigen und Erläutern von Elementen in der Geschichte), waren bei gedruckten und einfachen digitalen Büchern ziemlich ähnlich. Bei den erweiterten digitalen Büchern gab es aber weniger Aktivitäten, die sich auf den Inhalt des Buches bezogen, und zwar sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern. Auch hier muss aber differenziert werden: Es gibt Erweiterungen, die hilfreich sein können (Opens in a new window) (z.B. Animationen, Geräusche oder Stimmen, die zur Geschichte passen) und solche, die stören (z.B. eingebaute Spiele oder Aktivitäten, die die Aufmerksamkeit von der Geschichte weg lenken.).

Wenn die Erweiterung für die Geschichte relevant ist (oder zumindest nicht ablenkt), hat die digitale Funktion entweder eine neutrale oder positive Wirkung. Ist dies nicht der Fall, steht die Erweiterung dem potenziellen Lernprozess im Weg.

Mach dir keine Sorgen um den Wortschatz

Eine zentrale Funktion vom Lesen und Vorlesen ist, dass Kinder neue Wörter lernen. Deshalb liegt die Frage auf der Hand, ob Kinder einen besseren oder schlechteren Wortschatz entwickeln, wenn sie ständig auf dem Smrtphone oder Tablet lesen.

Um das herauszufinden, überprüften (Opens in a new window) Forscher:innen in den Niederlanden die Ergebnisse von 29 früheren Studien, an denen mehr als 1.200 Kinder im Alter von 3 bis 11 Jahren teilnahmen. Dabei ging es um die Frage, wie gut multimediale („enhanced“, also erweiterte) E-Books im Vergleich zu gedruckten Büchern abschneiden, und zwar mit oder ohne Unterstützung eines Erwachsenen. Das Ergebnis? Wenn ein Erwachsener unterstützend zur Seite stand, war der Lernerfolg mit multimedialen E-Books genauso hoch wie mit gedruckten Büchern. Wenn jedoch kein Erwachsener anwesend war, waren der Wortschatz und das Verständnis der Kinder bei E-Books, die mit Animationen, Hintergrundmusik oder relevanten Soundeffekten angereichert waren, tatsächlich besser.

Zurück zu der Tatsache, dass ich meinen Nichten ständig vorlese. Bei Vier- und Fünfjährigen in den Vereinigten Staaten wurde verglichen (Opens in a new window), wie viele Informationen sich die Kinder von einer Geschichte auf einem E-Book merken konnten, wenn sie erstens selbst lasen, zweitens dabei eine (vom Verlag gelieferte) aufgezeichnete Erzählung hörten oder drittens die Geschichte von einem Elternteil persönlich vorgelesen bekommen haben. Während sich die Kinder beim Selbstlesen (und Zuhören der Tonaufnahme) schon recht viel merken konnten, erinnerten sie sich an noch mehr, wenn der Text von einem Elternteil vorgelesen wurde.

So triffst du die richtige Entscheidung

Zeit für ein Fazit. Was heißt all das jetzt für Eltern? Sollte man lieber oldschool bei gedruckten Büchern bleiben? Oder ist es okay, wenn Kinder mehr am Handy oder Tablet lesen? Die Studienlage legt drei Schlussfolgerungen nahe, die bei der täglichen Entscheidung helfen können:

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