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So schaffst du es, wieder konzentrierter zu lesen

Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: Wie sich unser Leseverhalten in den letzten Jahren verändert hat.

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Ich könnte in diesem Newsletter auch einfach stumpf Fakten und Studien aneinanderreihen, das würde aber wohl kaum jemand lesen. Denn das Gehirn liebt Erzählungen. Sie machen unser Leben intensiver. Fritz Breithaupt erklärt in seinem Buch „Das narrative Gehirn“, was dahinter steckt, wie unsere Köpfe aufeinander abgestimmt sind und wie wir durch Narrationen in der Welt verankert sind. Hier gehts zum Buch. (Opens in a new window)

Vor drei Jahren habe ich mit einem Freund einen Roadtrip durch Spanien gemacht. Unsere letzte Station war Barcelona. Direkt am ersten Tag gingen wir zu Fuß durch die Stadt bis zum Strand. Ich hatte ein Buch dabei: „Was man von hier aus sehen kann“ von Mariana Leky. Auf einer Mauer las ich die letzen 30 Seiten. Dass wir inmitten eines wunderschönen Stadtstrands saßen, blendete ich komplett aus. Irgendwann kamen mir die Tränen, ich las ich die letzten Wörter und klappte das Buch zu. Wow.

Ich war komplett versunken in Lekys Buch. Ich finde das immer wieder faszinierend: Dieses Abtauchen in eine Welt, die sich jemand ausgedacht hat, mit Personen, die es nicht gibt und Handlungen, die nie passiert sind. Dieses konzentrierte Lesen gelingt mir aber auch immer wieder bei Sachbüchern (meistens ohne das Weinen). Zuletzt konnte ich „The Extended Mind“ von Anne Murphy Paul kaum weglegen.

Aber: Dieses Abtauchen ist eher die Ausnahme als die Regel. Und das, obwohl ich als Journalist den ganzen Tag praktisch nichts anderes mache als zu lesen. Ich lese News, Studien, Textnachrichten und E-Mails, scrolle durch Instagram und Twitter – und das meistens schon, bevor ich morgens aufstehe. Shame on me.

Das Ding ist: Dieses digitale Lesen unterscheidet sich grundlegend von dem Abtauchen, das ich oben beschrieben habe. Wie wir lesen, verdient ebenso viel Aufmerksamkeit wie das, was wir lesen, vielleicht sogar noch mehr. Und wie wir lesen, hat sich in nur wenigen Jahren ziemlich verändert.

Das digitale Lesen wirkt sich auf unser Gedächtnis, unsere Aufmerksamkeitsspanne und unsere Denkfähigkeit aus. Und es verändert auch, wie wir analog lesen. Heute geht es darum, was diese beiden Arten zu lesen ausmacht und was sie voneinander unterscheidet. Und darum, was es braucht, um in einer Welt, die von ständigem Input überflutet wird, gründlich zu lesen – und zu denken.

Natürlich hat sich verändert, wie wir lesen

Bevor wir uns angucken, was genau im Gehirn passiert, wenn wir gründlich lesen, müssen wir eine Sache verstehen: Es gibt kein Gen, das fürs Lesen zuständig ist.

Die Idee für diese Lese-Trilogie hatte ich, als ich eine Podcast-Folge (Opens in a new window) von Ezra Klein gehört habe, bei der die Maryanne Wolf zu Gast war. Wolf ist Professorin und Leitern der U.C.L.A. School of Education and Information Studies und eine der weltweit führenden Expertinnen auf dem Gebiet der Funktionsweise des Lesens und – was noch wichtiger ist – der Auswirkungen des Lesens auf das Gehirn. Sie sagt:

„Wenn man an Sprache denkt, ist das ein natürlicher Prozess: Es gibt ein genetisches Programm, in dem Sprache sich entfaltet. Für das Lesen gibt es so etwas nicht. Wir waren nie zum Lesen bestimmt.“

Das Erstaunliche am Gehirn ist aber, dass es sich so gut anpassen kann. Es kann verschiedene Fähigkeiten verbinden, neue Schaltkreise bilden und plötzlich: liest es. Wir lernen lesen, indem wir Teile des Gehirns umfunktionieren, die eigentlich für andere Dinge zuständig sind; für visuelle Verarbeitung, Sprachverständnis und Sprachproduktion.

Warum das wichtig ist? Weil wir dadurch sehen, dass diese Schaltkreise – wie so vieles, was wir können – veränderbar sind. Und genau das ist in den letzten Jahren passiert.

Lesen ist nicht eine Sache, sondern viele

Eigentlich ist Lesen ein irreführender Begriff, denn er ist singulär. Wir lesen oder wir lesen nicht. Lesen kann aber viele verschiedene Sachen bedeutet und unterschiedlich viel kognitive Kapazitäten verbrauchen.

Wenn wir lesen lernen, passiert etwas sehr Grundlegendes: Wir verbinden visuelle Prozesse (das Wiedererkennen von Buchstaben oder Zeichen und das Zusammenfügen zu einem Wort) mit dem, was wir über ein Wort wissen. Wir verbinden Sehen und Sprache miteinander. Wissenschaftler:innen sprechen hier von „Dekodierung“.

Dabei bleibt es aber nicht. Von da an beginnen wir diese Schaltkreise auszubauen. Je mehr wir wissen, desto mehr fügen wir diesen Schaltkreisen hinzu. Je mehr Hintergrundwissen wir haben, desto mehr bereiten wir diese Schaltkreise darauf vor, auf immer ausgefeiltere Weise zu wachsen.

Das Interessanteste am Lesen ist, dass es auf allem basiert, was vorher war.

Was passiert, wenn wir komplett abtauchen in einen Text?

Es gibt verschiedene Ebenen, auf denen wir an einem Text teilnehmen können. Wir können unsere Fähigkeit zum Beispiel nutzen, um eine andere Perspektive einzunehmen. Wir versetzen uns in die Gedankenwelt eines anderen hinein und auch in seine Gefühle. Bei dieser Art zu lesen, beim Abtauchen, gehen wir weit übers Dekodieren hinaus. Manchmal kann ich das währenddessen spüren: Ich fange an, assoziativ zu denken, ich höre kurz auf zu lesen, weil ich einen Aha-Moment habe. Ich verstehe etwas, das ich vielleicht vor längerer Zeit gelesen hatte und bisher nicht verstanden hatte.

Und genau dieses Abtauchen und Reflektieren kann man im Gehirn sehen. Forschende (Opens in a new window) fanden heraus, dass unser Gehirn bei dieser Art zu lesen praktisch überall aktiviert wird. Nicht nur in einzelnen Regionen, die mit Leseverständnis in Verbindung gebracht werden, sondern in ganz vielen verschiedenen Regionen über beide Hemisphären verteilt.

Lesen ist wie ein Feuerwerk im Gehirn. Wenn wir diesen Zustand erreichen, wird ganz viel von dem aktiviert, was wir wissen. Und nicht nur das, sondern auch das, was darüber hinausgeht: Es entstehen neue Verbindungen. Und diese neuen Verbindungen sind die Grundlage für neues Denken, für echtes Verstehen und für Kreativität.

Dieses Abtauchen wird immer schwerer

Mein Problem ist: Mir fällt es immer schwerer, in diesen Zustand des Deep Readings zu kommen. Wenn ich digital lese – und das tue ich wie gesagt jeden Tag mehrere Stunden – lese ich anders. Ich scanne den Text, ich scrolle durch den Text. Forschungsergebnisse (Opens in a new window) zeigen, welche Folgen das hat:

  1. Wenn wir Texte scannen oder durch sie scrollen, übersehen wir wichtige Details. Wenn wir gedruckte Bücher lesen, fällt es uns zwar nicht auf, aber wir gehen viel öfter zurück, lesen noch einmal nach, was wir vorher bereits gelesen hatten. Wir bewegen uns im Buch nach vorn und nach hinten, wir navigieren. Das führt dazu, dass wir das Gelesene durchdringen und reflektieren.

  2. Digital Lesen heißt auch multimedial Lesen, mit Hyperlinks, bewegten und interaktiven Grafiken, Animationen – solche digitalen Leseelemente können das Gehirn stark beanspruchen. Und vor allem: ablenken.

  3. Wenn wir Texte scannen oder durch sie scrollen, lesen wir oftmals schneller als wenn wir analog lesen. Studien (Opens in a new window) zeigen, dass wir bei Verständnis-Tests schlechter abschneiden, wenn wir schnell gelesen haben. Maryanne Wolf sagt: „Viele von uns sind zu dieser frühesten Form des Lesens zurückgekehrt, bei der wir kaum die Oberfläche dessen, was wir lesen, überfliegen, es kaum im Gedächtnis verankern, und infolgedessen lesen wir tatsächlich weniger von dem, was da ist.“

  4. Wenn wir scrollen, haben wir keine visuellen Marker. Das Problem ist, dass es dort kein „dort“ gibt. Das Scrollen bietet keine Anhaltspunkte für den Anfang oder das Ende, während die Grenzen einer bestimmten Seite den Leser:innen ein Gefühl für einen geografischen Ort vermitteln, auch wenn dieser nur virtuell ist. Solche Landmarks helfen unserem Gedächtnis dabei, sich Dinge zu merken.

All das führt mich zu einer Erkenntnis: Die Zeit, die wir mit einem Buch oder Text verbringen, ist wichtig. Sam Bankman-Fried, ein Unternehmer, der sich etwas mit Kryptowährungen verspekuliert hat (Opens in a new window), meinte mal: Die meisten Bücher hätten auch Blog-Beiträge sein können.

Vielleicht stimmt das. Aber Maryanne Wolf widerspricht:

„Selbst wenn das Buch eine Idee ausbreitet, die kürzer sein könnte, liegt ein Teil des Wertes für den Leser in der Zeit, die er mit dem Ringen verbringt.“

Und weiter: „Die Gefühle, die wir haben, die Gefühle, die ein Autor in uns auslöst, sind ein Teil dessen, was auf dem Weg zur Erkenntnis geschieht. Das ist eine Form der Erkenntnis.“

Wie du in einer digitalen Welt das Abtauchen nicht verlernst

Vielleicht muss ich das an dieser Stelle kurz sagen: Ich bin kein Gegner vom digitalen Lesen und ich wünsche mir auch nicht, dass wir nostalgisch schwebend in eine Vergangenheit zurückkehren, in der es nur analoge Bücher gibt. Mein ganzes Berufsleben hängt vom digitalen Lesen ab und ich will mir wirklich nicht vorstellen, wie viel mehr Arbeit es für mich wäre, wenn ich nicht mehr auf dem Laptop oder Handy lesen könnte.

Gleichzeitig nervt es mich, dass mir das wirklich konzentrierte Lesen heute schwerer fällt. Und ich bin damit nicht allein. Als ich meine Follower auf Twitter gefragt (Opens in a new window) habe, ob es ihnen heute schwerer fällt als früher, komplett in einen Text abzutauchen, haben das rund 74 Prozent der über 3.000 (!) Teilnehmer:innen bejaht.

Für alle, denen es ähnlich geht, habe ich die Studien und Beiträge der Wissenschaftler:innen, die sich mit den Auswirkungen vom Lesen aufs Gehirn beschäftigen, nach Tipps durchscannt (haha, ja wirklich) und bin fündig geworden. Herausgekommen ist eine Art Anleitung fürs konzentrierte Lesen in unserer digitalen Welt – in fünf Schritten.

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